Maienmahlzeit: Die Rede des Bundestagspräsidenten

14.05.2015

Viel Applaus gab es für Prof. Norbert Lammerts frei gehaltene Ansprache, zu deren Ausgangspunkt er die Eingemeindung Borbecks in die Stadt Essen vor 100 Jahren wählte. Eingemeindungen seien kein selten davor und danach beobachteter Vorgang, so der Bundestagspräsident. Spannend für ihn aber sei die damals vorgetragene Begründung zu den Ereignissen 1915 ...

Die Rede des Bundestagspräsidenten

Heimat zwischen Verfassungsstaat und Bürgergesellschaft

Viel Applaus gab es für Prof. Norbert Lammerts frei gehaltene Ansprache, zu deren Ausgangspunkt er die Eingemeindung Borbecks in die Stadt Essen vor 100 Jahren wählte. Eingemeindungen seien kein selten davor und danach beobachteter Vorgang, so der Bundestagspräsident. Spannend für ihn aber sei die damals vorgetragene Begründung zu den Ereignissen 1915: Zu geringes Steueraufkommen in der Großgemeinde Borbeck, nicht ausreichende Infrastruktur, zu viele soziale Belastungen und zu hohe Schulden.

Und mancher ahnte bereits, worauf der Redner abzielte, als er schmunzelnd fragte: „Fällt ihnen ein Stadtteil oder ein Großstadt im Ruhrgebiet heute ein, für die diese Beschreibung nicht zutrifft? Mir jedenfalls nicht!“, erklärte Lammert. Für ihn eröffne dies eine spannende Perspektive auf eine „neue Eingemeindungswelle“, an deren Ende tatsächlich die Einheit des Ruhrgebiets stehe, um die er sich wie viele andere seit vielen Jahren „verzweifelt bemühe“.



Runde Jahrestage

Doch neben dem 100. Jahrestag „dieses denkwürdigen Vorgangs“, erinnerte Prof. Lammert, stünden gerade in diesem Jahr zahlreiche runde Jahrestage, die allesamt mit dem Spannungsfeld zwischen Heimat, Verfassungssaat und Bürgergesellschaft zu tun hätten: So etwa der 200. Geburtstag Otto von Bismarcks, der 70. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges, der 25. Jahrestag der Deutschen Einheit im Herbst, aber auch der 50. Jahrestag der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel.

Alle hätten mit ihrer je eigenen Logik beim genauen Hinsehen viel miteinander zu tun: Die Gründung eines deutschen Nationalstaates, betonte der Bundestagspräsident, sei nicht durch vertragliche Vereinbarungen, sondern durch drei sogenannte „Einigungskriege“ herbeigeführt worden, die Rivalität der europäischen Nationalstaaten führte bis in die die Katastrophe des Weltkrieges und die anschließende Teilung Europas.

Nichts ist selbstverständlich

Vor 70 Jahren sei von den meisten das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates kaum für möglich gehalten worden. „Dass aber 20 Jahre später, 1965, zwischen Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen werden würden, war nach der  monströsesten Verirrung, die es mit der systematischen, angekündigten, industriell perfektionierten Vernichtung jüdischen Lebens nicht nur in der deutschen, sondern sogar der Menschheitsgeschichte gegeben hat, eigentlich so gut wie ausgeschlossen.“

Trotzdem halte man es heute auch für selbstverständlich, dass wir in Deutschland in einem vereinigten Nationalstaat lebten, gleichzeitig in einem zusammenwachsenden Europa aus 28 demokratisch verfassten und regierten Staaten. Doch Lammert stellte klar, dass dies keineswegs selbstverständlich sei – diese Haltung sei „eine Begabung unseres Landes“, erklärt er mit kritischem Unterton. Hier seien Jahrestage „hilfreiche und notwendige Sprungbretter für die Vergewisserung historischer Ereignisse und ihrer aus ihnen erwachsenden Verpflichtungen für die Zukunft“.

Globalisierung und Europa

Ohne Zweifel sei die Gegenwart eine Zeit weltgeschichtlicher Veränderungen: Die Globalisierung eröffne den Blick auf eine Welt, die nie so groß und bevölkert gewesen sei. Und doch sei sie kleiner geworden - durch Mobilität und Kommunikationsmöglichkeiten, weltweit verfügbare Informationen und schnelle Erreichbarkeit jeden Ortes: „Selbst diejenigen, die das mit der Globalisierung gar nicht so toll finden, müssen sich darauf einstellen, dass sie stattfindet“, so Prof. Lammert. Und das mit einer Fülle von teilweise noch gar nicht absehbaren Folgen - nicht zuletzt dem Verlust der jahrhundertelange „Kernsouveränität der Nationalstaaten“, der Herrschaft über ihre eigenen Angelegenheiten.

„In Zeiten der Globalisierung gibt es nationalstaatliche Souveränität nicht mehr“, stellte der Redner kategorisch fest: „Die rund 200 in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten der Welt unterscheiden sich nur darin, ob sie das begriffen haben oder nicht.“ Der europäische Integrationsprozess sei hier „der mit Abstand bislang intelligenteste, ehrgeizigste, aber auch komplizierteste Versuch, eine Antwort auf die Globalisierung zu geben“.

Ist Heimat ein Anachronismus?

Doch sei in einer Zeit so grundstürzender Veränderung der Welt etwas wie „Heimat“ überhaupt noch vorstellbar, ohne sich dem Verdacht des Anachronismus auszusetzen? Schließlich stamme der Begriff aus der Zeit, in der sich die Nationalstaaten fanden, und als man an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert über einen maximalen Mobilitätsradius von 25 Kilometern verfügte. „Das müssen wir uns heute klarmachen, um zu begreifen, in welcher Welt wir heute überhaupt leben“, so Lammert. Nach seiner Einschätzung werde dabei trotz der Globalisierung das Bedürfnis nach Heimat nicht kleiner. Vielmehr werde in einer immer unübersichtlicheren Welt der Wunsch nach einem Punkt eher größer, an dem man sich zu Hause fühlt, von dem man sie wenigstens einigermaßen beobachten könne: Die Komplexität der modernen Welt verstärke dieses Bedürfnis deutlich.

„Heimat ist ein Gefühl“

Ein Ort sei dies freilich nicht, verwies Lammert auf Herbert Grönemeyers Wort: „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl.“ Dies wachse im Fußballverein, in der Kirchengemeinde oder anderen vertrauten Umgebungen, in denen gemeinsame Anliegen, Überzeugungen und Interessen gelebt würden, erklärte der Bundestagspräsident: „Ohne diese Art von Beheimatung wird es gerade für moderne Gesellschaften immer schwieriger und sogar aussichtslos, ihren inneren Zusammenhalt zu bewahren.“

Moderne wie alte Gesellschaften hielten nicht naturgesetzlich zusammen, sondern offenkundig brauche es ein Mindestmaß an Übereinstimmung, betonte er und illustrierte dies an lebendigen Beispielen mit Blick auf die Familie. Hier lasse sich besonders gut beobachten, wie Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausgehalten und gelebt werden können: „Es ist die Errungenschaft moderner, liberaler, demokratischer Gesellschaften, dass sie nicht nur von der Unterschiedlichkeit der Menschen ausgeht, sondern sagt: Wir wollen als Verfassungsstaat sicherstellen, dass jeder seine Interessen verfolgen und Überzeugungen vortragen kann. Aber wenn es nichts mehr gibt, das diese Menschen miteinander verbindet, dann fliegt diese Gesellschaft auseinander, weil es nichts mehr gibt, was sie zusammenhält“, erklärte Lammert unter großem Applaus.

Der Kitt der Gesellschaft

Genau diesen Zusammenhalt könne der moderne Verfassungsstaat aber nicht schaffen, verwies er auf eine bekannte Formulierung des Verfassungsrechtlers Bockenförde: „Der moderne demokratische Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Damit entstehe der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhalte, entweder in der vitalen Bürgergesellschaft - oder er gehe abhanden. „Gerade der demokratisch freiheitliche Staat brauche eine vitale Bürgergesellschaft – das ist die zentrale Herausforderung!“

Doch gebe es ermutigende Botschaften: „Wir haben in Deutschland etwa 550.000 Vereine mit insgesamt etwa 44 Millionen Mitgliedern“ so Lammert. Mehr als 20 Millionen Menschen nähmen in diesen Verbänden und Organisationen ehrenamtlich Aufgaben wahr – gelegentlich oder Tag für Tag. Bis zu 5 Milliarden Stunden ehrenamtlicher Arbeit kämen hier nach einem Bericht einer Enquète-Kommission zusammen – allein rechnerisch ein erheblicher wirtschaftlicher Wert von jährlich 35-40 Milliarden Euro, wenn er allein nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden würde.

Demokratische Tugend der Verantwortung

Allein schon aus dieser Perspektive ergebe sich ein klarer Hinweis auf die Verfassung des Landes, wenn es dieses bürgerschaftliche Engagement nicht gäbe. Doch mehr noch als der wirtschaftliche sei der soziale Aspekt der entscheidende, unterstrich Prof. Lammert und zitierte ein Wort des ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Roman Herzog: „Es gibt viele demokratische Tugenden – Bequemlichkeit gehört nicht dazu.“ Dies treffe den Kern der Sache: „Nein, die erste demokratische Tugend ist sicher nicht Bequemlichkeit, sondern das Bewusstsein für Verantwortung – für sich selbst, die eigene Familie, für die Menschen, für die man Verantwortung übernommen und Verpflichtungen eingegangen ist. Und nur wenn es dieses Bewusstsein gibt, dann kann auch und gerade eine moderne Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung freiheitlich und menschlich sein.“


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