Die Maienmahlzeit und der Borbecker Appell

19.05.2016

„Der Mai ist gekommen – jetzt muss nur noch die Vogelhochzeit folgen“: Was am Abend des 18. Mai 2016 auf die fröhlichen Lieder und Gedichte der wunderbar aufgelegten Kinder der Dürerschule folgte, war weit mehr als ein anekdotenreicher Rückblick auf die Hochstimmung, die 2010 mit dem Kulturhauptstadtjahr das ganze Ruhrgebiet erfasste: Die 32. Borbecker Maienmahlzeit stellte sich entscheidenden Zukunftsfragen für die ganze Region. Und gleich zwei illustre Ehrengäste sorgten gemeinsam für einen hochkurzweiligen Abend im vollbesetzten großen Saal der Borbecker „Dampfe“: Fritz Pleitgen, der langjährige WDR-Intendant, und Prof. Oliver Scheytt, viele Jahre Kulturdezernent in Essen, hielten der Region einen blankgeputzten Spiegel vor.

Im Team unschlagbar: (v.l.) Angelika Kleine-Möllhoff, Vorsitzende des Stadtverbandes der Essener Bürger- und Verkehrsvereine, Dagmar Schilli-Frank, BBVV-Finanzchefin und die BBVV-Vorsitzende Susanne Asche


Die Maienmahlzeit und der Borbecker Appell
Oder: Zwei Ruhries wollen eine Metropole schmieden


BORBECK. „Der Mai ist gekommen – jetzt muss nur noch die Vogelhochzeit folgen“: Was am Abend des 18. Mai 2016 auf die fröhlichen Lieder und Gedichte der wunderbar aufgelegten Kinder der Dürerschule folgte, war weit mehr als ein anekdotenreicher Rückblick auf die Hochstimmung, die 2010 mit dem Kulturhauptstadtjahr das ganze Ruhrgebiet erfasste: Die 32. Borbecker Maienmahlzeit stellte sich entscheidenden Zukunftsfragen für die ganze Region. Und gleich zwei illustre Ehrengäste sorgten gemeinsam für einen hochkurzweiligen Abend im vollbesetzten großen Saal der Borbecker „Dampfe“.

Beide nutzten die traditionsreiche Veranstaltung für klare Ansagen an Politik, Wirtschaft und die seit dem Mega-Event inzwischen einigermaßen erschlafft scheinende Ruhr-Gesellschaft: Fritz Pleitgen, der langjährige WDR-Intendant, und Prof. Oliver Scheytt, viele Jahre Kulturdezernent in Essen, hielten der Region einen blankgeputzten Spiegel vor. Sie trugen damals an der Spitze und in der Geschäftsführung der „Ruhr.2010“die Verantwortung für eines der größten Ereignisse auf dem Breitengrad. Mit Nachwirkungen? Mit Lerneffekten? Mit Perspektiven?


Als Moderator führte wie immer BBVV-Geschäftsführer Franz Josef Gründges durch den kurzweiligen Maienmahlzeit-Abend 2016

Zwei „Ruhries“ im Doppelpass


Bestens machte sich Oliver Scheytt in seiner Doppelrolle als Reporter und Experte zugleich: So ging es zunächst um Fußball, um Erfolgstrainer Kloppo und doppelte Herzkammern, die auch im Innersten des gebürtigen Duisburgers Fritz Pleitgen genügend Platz für gleich mehrere Ruhrfußball-Vereine lassen. „Im Fußball sind wir nach München – demnächst noch vor München - einsame Spitze“, verriet Fritz Pleitgens Blick in die Zukunft – natürlich nicht ohne den zu erwartenden Applaus. Zwar habe er das Borbecker Georg-Melches-Stadion noch nicht besucht, sei bis heute aber vollen Respekt vor den alten Kämpen, die Rot-Weiss einst zu großen Ehren und zur Deutschen Meisterschaft führten.

Geboren in Meiderich („Bei uns kam der ganze Mist von Thyssen runter“), kam Pleitgen nach Essen, weil der Vater eine Stelle bei Krupp fand. Sie wohnten in der Holsterhausener Simsonstraße, wurden 1943 ausgebombt, er erlebte die einschüchternden Luftangriffe auf das Revier und die Flucht vor der Roten Armee aus Schlesien. „Wir haben hier die volle Dröhnung bekommen“, so Pleitgen über seine frühesten Kindheitserinnerungen. „Es wird heute mit Recht über das Elend und die Not der Flüchtlinge gesprochen, doch dürfen wir nicht vergessen, dass die Menschen im Ruhrgebiet unter einem furchtbaren jahrelangen Terror gelebt haben. Die hätten auch mal ein Denkmal verdient.“ Ins Ruhrgebiet kehrte er damals nicht mehr zurück. „Aber es ist bis heute meine Heimat geblieben“, bekannte der Weltgereiste, der den Begriff „Ruhri“ bewusst und gerne gebraucht – für ihn alles andere als ein alberner Ausdruck, wie manche meinten: „Man muss sich auch mal über Meinungen anderer hinwegsetzen. Wir sind eben eine besondere Spezies mitten in Deutschland.“


Gratulationen für den Ehrenpreis "Hand in Hand" für den Runden Tisch der Walter-Pleitgen-Schule

Kulturhauptstadt: Eine kühne Idee


Im gekonnten Doppelpass spielten sich Scheytt und Pleitgen munter die Bälle zu. Lebhafte Erzählungen berichteten aus den ersten Findungsphasen für die Idee der Kulturhauptstadt und für die Galionsfiguren des Projekts, als die sich beide damals fanden. Bis heute außergewöhnlich und eigentlich unmöglich, so Pleitgen: „Es war eine so kühne Idee. Das erste Mal, das eine Stadt und eine ganze Region gemeinsam antraten. Und ich würde dem Ruhrgebiet empfehlen, dass man mehr solcher Ideen in die Welt setzt und versucht, die auch umzusetzen!“ Damals eine völlige Schnapsidee für viele, die aber gegen härteste Konkurrenz von 15 großen deutschen Städten durchgesetzt wurde: „Schon das war eine große Leistung“.

Für den Weg, auf dem Essen und nicht Bochum zum „Bannerträger“ der zuletzt erfolgreichen Bewerbung wurde, habe Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt damals den Grundstein gelegt, er selbst sei schließlich gerne dem guten Zureden vieler namhafter Personen gefolgt, so Pleitgen: „Ich habe viel in meinem Leben erlebt, aber auf diese Zeit schaue ich mit besonderer Freude zurück“. Denn es sei bewiesen worden, dass man „eine Menge schaffen kann, wenn man seine Kräfte zusammenspannt“, betonte er als „außenstehender Insider“, der heute bei Köln lebt. „Und ich kann ihnen sagen: Da wird mir oft das Herz schwer, wenn ich Schlagzeilen lese, die nicht besonders vorteilhaft für das Ruhrgebiet sind. Sie müssen wissen, die anderen Metropolen und Metropolregionen machen rasend schnelle Fortschritte. Und der Abstand wird aus meiner Sicht größer!“



Große Bilder einer „Mission impossible“

Nicht vergessen sind bis heute die „großen Bilder“ des großen Kulturhauptstadt-Jahres – dies zeigten auch die Reaktionen des Publikums: Nicht nur die leere Autobahn, das große Stilleben-Fest mit 60 Kilometer Tischen auf der A 40 habe damals in der Flut großer Bilder aus aller Welt für Aufmerksamkeit gesorgt. Doch allein die vielen beteiligten Städte als „Local heroes“ zusammenzubringen - dies sei im Prinzip schon eine „Mission impossible“ gewesen, so Pleitgen: „Was sie einte: Sie alle waren - erstens - pleite und konnten sich – zweitens – alle nicht ausstehen.“ Alle jedoch sollten beteiligt werden, um unter dem Signet „Ruhr.2010“ eine gemeinsame Identität zu entwickeln. „Man muss eben Highlights setzen, die andere nicht haben“, erinnerte Pleitgen an den Blizzard bei der Eröffnung auf Zollverein. Erst das Unwetter schließlich habe dafür gesorgt, dass das Ereignis sowohl die Medien als auch die Menschen tatsächlich wirklich erreichte.



Kultur ist harter Standortfaktor

„Das, was die Kulturhauptstadt erforderte, hat es noch nie in der Welt gegeben. Das muss man einfach riskieren - man muss das Glück einfach herausfordern“, beschrieben beide die Verhandlungen mit den Sponsoren und mit der Politik - immerhin habe die Endabrechnung zuletzt sogar ein Plus von 2 Millionen Euro ausgewiesen. Wie nie zuvor sei es zudem die Medienwahrnehmung für das Revier gewesen - dem Gesamtetat von 60 Millionen müsse ein Mediawert von 80 Millionen entgegen gerechnet werden, machte Pleitgen klar. Um gleich eine massive Lanze für ein Schlüsselthema in den leidigen Etatdebatten der notorisch klammen Kommunen zu brechen: „Man kann mit Kultur eine Menge machen. Für mich ist Kultur ein ganz harter Standortfaktor. Und das wissen die Politiker – ich sage das pauschal und voller Zorn – in allen Städten nicht. Wenn gespart werden muss, dann fangen sie ausgerechnet beim kleinsten Etat an – bei der Kultur. Sie sparen dabei nichts, machen nur die Kultur klein“, erklärte der ehemalige Chef der Ruhr.2010 unter großem Applaus.



Die großen Leistungen der Region

„Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“: Hat der damals ausgegebene Slogan Wirkung gezeigt? Er hat, erklärte Scheytt. Das Image habe sich deutlich gewandelt, das Revier sei präsent, die Übernachtungszahlen stiegen deutlich, der touristischer Effekt wirke nachhaltig. Doch das dürfe längst nicht alles bleiben, spielten sich beide Protagonisten auf der Dampfe-Bühne die nächsten Stichworte zu: Ob die jüngst erfolgreiche Bewerbung für die „Grüne Hauptstadt Europas“ 2017, das 300-jährige Bestehen des Duisburger Hafens (Pleitgen: „Eine Erfolgsstory, die einfach verkauft werden muss“), die Innovation City Bottrop, die Klimakonferenz 2022, das Ende der Renaturierung der Emscher – alle diese Themen müssten dringend genutzt werden, um die großen Leistungen der Region besser an den Mann zu bringen.



Große Bilder mit national und international erhöhter Aufmerksamkeit seien auch vom für 2018 geplanten Abschied vom Steinkohlebergbau zu erwarten, unterstrich Fritz Pleitgen, der dem Beirat des für die Feier gegründeten Gremiums  angehört. Das Motto „Glückauf. Zukunft“ stehe für keinen rückwärtsgewandten, sondern für einen notwendigen optimistischen Blick nach vorne, erklärte er und sparte nicht mit Kritik an hausgemachten Problemen. „Ich sage auch dem RVR immer wieder: „Macht ein gemeinsames Marketing, da kommt eine Menge rum“. Die Städte und Kreise müssten noch enger zusammenarbeiten, auch wenn sie es schwer hätten. „Aber diese Probleme haben andere Metropolen auch“, verwies der langjährige Korrespondent auf den Strukturwandel in den USA. Dort seien selbst die alten schwerindustriellen Städte Pittsburg, Buffalo oder Detroit wieder im Kommen, gestützt von „anchor institutions“ wie Forschungseinrichtungen und dem Gesundheitssektor – Feldern, auf denen auch das Ruhrgebiet sehr enorm stark geworden sei: „Ich bin überzeugt, dass das Ruhrgebiet, wenn es gemeinsam seine Kräfte ausspielt, eine sehr ansehnliche Zukunft haben wird.“



Rakete statt Feuerwerke

Eine Posaune, die auch Kulturmanager Oliver Scheytt ergriff, um sich mit seinem Appell auch direkt an Oberbürgermeister Thomas Kufen zu wenden: Wichtig sei, wie etwa in Hamburg die Bereiche Wirtschaftsförderung, Stadtmarketing und Tourismus in einer Gesellschaft zu bündeln – hier liege die Zukunft: „Warum kommt nicht aller Treibstoff in eine Rakete? Stattdessen wird immer mit kleinen Feuerwerken gezündelt. Das ist das, was man aus der „Ruhr.2010“ bis heute nicht gelernt hat, nämlich auf allen diesen Felder zusammenzugehen.“ Und er verdeutlichte dies am Beispiel öffentlicher Nahverkehr: „Drei Spurbreiten, fünf Automatensysteme, aber kein Anschluss“, so Scheytt, und fragte: „Woran kennt man den Ruhri in Berlin oder Paris? Sie laufen dem Bus hinterher, weil sie glauben, dass erst mal keiner mehr kommt!“ Hier, so forderte er, liege „aber auch die Aufgabe des Landes: Die Städte auch durch Zwang zusammenzubringen. Wir müssen zusammengehen, sonst verlieren wir!“



Road Map für die „Neue Metropole Europas“

Nachdrücklich unterstrichen Scheytt und Pleitgen, dass die Politik überhaupt gemeinsam für das Ruhrgebiet stehen und an einem Strang ziehen müsse: Ansätze gebe es bereits, aber das Ruhrgebiet benötige einen Sprecher, ein Gesicht, das man mit ihm verbinde. Etwa durch die Oberbürgermeister, die jeweils im Wechsel für die ganze Region sprächen. „Und wir müssen nicht zuletzt eine entschiedene Präsenz in Brüssel und Berlin zeigen“, machte sich Pleitgen für die aus heterogenen Städten gewachsene „Neue Metropole Europas“ stark. Gefragt seien Modelle und eine Raod Map, um gemeinsame Ziele zu erreichen und den Anschluss an andere Regionen nicht zu verlieren. „Und wir müssen diese elende Bescheidenheit aufgeben!“, forderte Pleitgen. Auch wenn manche daran zweifelten: „Selbstverständlich ist das Ruhrgebiet eine Metropole. Hier wohnen 5 Millionen Menschen und daran wird schon über 100 Jahren gebastelt, aber wir sind nicht weitergekommen. Dieser Zusammenhalt, bei dem jeder seine Identität wahrt, muss kommen. Ich wünsche mir, dass das Ruhrgebiet diese Kraft wieder aufbringt, um gemeinsam nach vorne zu gehen.“



Für eine lebenswerte Metropole Ruhr


Immerhin, konstatierte Oliver Scheytt auch bleibende Nachwirkungen der Kulturhauptstadt: Kunst und Museen arbeiteten seitdem enger zusammen, viele Initiativen würden nachhaltig weiter gefördert. Dabei dürfe es jedoch nicht bleiben, erklärte er und warf einen Blick auf einen 2017 auf Zollverein geplanten Großkongress, bei dem die vielfältigen „Großformate“ zusammengetragen werden sollen - angefangen von der von 1989-1999 über zehn Jahre gelaufenen Internationalen Bauausstellung Emscherpark über die Kulturhauptstadt Europas 2010, die Grüne Hauptstadt Europas 2017 und die Klima-Expo 2022 bis hin zur 2027 geplanten Internationalen Gartenbauausstellung. Hier werde deutlich, dass nicht nur Kultur, sondern auch die Natur in einer lange geschundenen Umwelt wesentliche Standortfaktoren für eine lebenswerte Metropole Ruhr seien. Um zuletzt noch mit einer für viele überraschenden Neuigkeit aufzuwarten, die Essen und das Ruhrgebiet ganz sicher in eine Liga mit den großen Metropolen der Welt stellen würde: „Und es könnte auch sein, dass wir uns noch um die Expo 2030 bewerben. Ich wüsste auch, wo wir sie machen könnten.“



Mehr Selbstbewusstsein für die Region

Dass die klaren Plädoyers für mehr Selbstbewusstsein der ganzen Region großen Applaus und natürlich auch einige Borbecker Spezialitäten ernteten, war zweifellos nicht nur der überaus kurzweiligen Präsentation der „Meister der Inszenierung“ geschuldet. Denn sie legten bei den Nachfragen von vier Schülern des Gymnasiums Borbeck noch entscheidend nach: Wer sich etwas für die Zukunft wünsche, müsse sich auch aktiv selbst dafür einsetzen. Ob im Bereich des Öffentlichen Nahverkehrs, der Bildung oder der Integration - Politik sei spannend, Menschen zusammenzubringen, gemeinsam für Ziele einzutreten und zu kämpfen, lohne sich immer.



Glückauf Zukunft, Ruhrgebiet

Dass dies an vielen Stellen auch in Borbeck in vielfältiger Weise geschieht, machte der von der BBVV-Vorsitzenden Susanne Asche verliehene diesjährige Preis „Hand in Hand“ deutlich, der an die vielen Freiwilligen in der Flüchtlingsbegleitung in der ehemaligen Walter-Pleitgen-Schule ging. Ihrem Engagement dankten die Gäste im Saal der Dampfe mit großem Beifall. Für alle hatte das Team um Dampfe-Chef Martin Grahl wie in jedem Jahr wieder ein wunderbares Menü gezaubert. Und dass Günter Eggert vor dem wohlklingenden Steigerlied dem Glückauf diesmal ein kleines europäisches Melodien-Potpourri vorausschickte, passte in diesen Abend mit seiner Botschaft: „Ruhrgebiet, trau dich was. Du bist mehr als du denkst. Und erst recht mehr als das, was andere von dir denken. Mach was. Du kannst das. Glückauf Zukunft"! Frühlingsgefühle an der Ruhr? Wie gesagt: Der Mai ist gekommen – jetzt muss nur noch die Vogelhochzeit folgen ....



Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt diskutierten mit 17-jährigen Schülern des GymBo - am Vorabend ihrer Matheklausur ...





Gut aufgelegt - oben die Stadtvorsitzende der Essener Bürger- und Verkehrsvereine Angelika Kleine-Möllhoff (r.) - nicht nur, weil Günter Eggert (u.r.) das Steigerlied anstimmte ...





Dampfe-Chef Martin Grahl (oben 2.v.l.) sorgte mit seinem Team für perfekte lukullische Harmonien, die Kinder der Dürerschule garantierten für fröhlichen akustischen Wohlklang ...








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