Grafflage, Pfr. Heinrich

Msgr. Heinrich Grafflage, der 51 Jahre als Priester in Essen wirkte, stammte mitten aus Borbeck und kehrte schließlich dorthin auch gerne wieder zurück: Hier war er vielen Menschen verbunden, in besonderer Weise mit der Kolpingsfamilie Essen-Borbeck, der er viele Jahre als Präses angehörte.

Eine Borbecker Kriegsjugend

Dass er einmal der Berufung zum Seelsorger folgen würde, entschied sich allerdings nicht so schnell – die Vorzeichen standen anders: Geboren wurde er am 6.1.1933 im Philippusstift und wuchs mit seinen beiden Schwestern Irmgard und Karola auf. Sie wohnten in der Zielstraße, in der Klopstockstraße und ab 1938 an der Ecke Bocholder-Str./Jahnstraße. Sein Vater sang im Kirchenchor von St. Dionysius und der Sohn besuchte den Kindergarten St. Dionysius, dann den Kindergarten an Don Bosco. Es folgte eine Jugend im Krieg: Als 1940 die Grundschule zerstört wurde und Bomben nur knapp das Haus verfehlten, wurden die Kinder getrennt. Man verlegte die Schule nach Prag, Karola und Heinrich blieben zurück. 1942 ging er zur Erstkommunion in St. Fronleichnam, wurde Messdiener und 1942 in St. Dionysius gefirmt.

Kinderlandverschickung

Nach den Großangriffen im Frühjahr 1943, als Bomber die nördlichen Stadtteile anflogen, brannte das halbe Haus. Jetzt kam auch Heinrich in die sogenannte Kinderlandverschickung: Im März 1943 ging es für den Zehnjährigen zu einem kleinen Bauern nach Drope bei Gersten im Kreis Lingen: Es gab dort kein elektrisches Licht, Trinkwasser musste vom Nachbarn geholt werden und die Schule im Emsland bestand aus nur einer einzigen Klasse für alle Jahrgänge. Daran, dass der Junge auf das Gymnasium kommt, war aus Kostengründen nicht zu denken. So wechselte er im August 1944 nach Westfalen auf eine Realschule in Beckum. Dort erlebte Heinrich Grafflage die letzten Kriegsmonate bewusst mit: Als in der Osternacht 1945 die Alliierten in Beckum einmarschierten, wurde die Stadt kampflos übergeben, Schwester Karola und er überlebten und kehrten im Juli in das zerstörte Borbeck zurück. Als dort im Oktober die Schulen wiedereröffnet wurden, ging Heinrich Grafflage auf die Realschule Borbeck, die damals in der Herderschule an der Hamburger Straße in Frohnhausen untergebracht war.

Aktiv in Don Bosco

Jetzt wurde er bei den Salesianern Don Boscos aktiv und er blieb seitdem geprägt durch das Beispiel des unkonventionellen Ordensgründers und „Patron der Jugend“: Engagiert als Lektor und „Messdiener-Häuptling“ in der Ordenskirche, übernahm Heinrich Grafflage Aufgaben als Gruppenleiter in der Jugendarbeit. Mit 17, nach der Mittlere Reife, wurde es für ihn ernst: Zum 1. Mai 1950 trat er die dreijährige Lehre als Vermessungstechniker beim Kommunalverband Ruhr an, arbeitete dort ein Jahr als Techniker und ging von 1954-56 auf die Ingenieurschule Essen. Die Studiengebühren übernahm der Kommunalverband. Nach dem Abschluss folgten sechs Jahre als Ingenieur beim damaligen Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR), wo er bis 1962 tätig blieb.

Lebensentscheidung

Doch bereits damals war ihm klar: Auch wenn er inzwischen auf die 30 zuging, sollte dies nicht seine endgültige letzte Berufung bleiben. Er traf eine radikale Entscheidung: Ab Herbst 1960 besuchte er als „Spätberufener“ das Bischöfliche Abendgymnasium, machte so 1963 auf dem 2. Bildungsweg das Abitur und nahm Abschied von seinem ersten Beruf. Zum 1. November 1963 begann er das Studium der Katholischen Theologie in Bonn, wechselte nach vier Semestern 1965-67 nach Freiburg und dann für weitere zwei Semester nach Bochum. Eine harte, aber auch für ihn besonders spannende Zeit, weil gerade das II. Vatikanische Konzil (1962-65) getagt hatte: „Das Vatikanum war ein Quantensprung“, erinnerte er sich an die bislang größte Kirchenversammlung aller Zeiten, die auch an den Studenten damals nicht spurlos vorbeiging, wie er oft bekannte.

Priesterjahre in Essen

Von 1968-70 war er im Priesterseminar, machte sein Diakonat in St. Barbara Mülheim-Dümpten und wurde 1970 in Essen zum Priester geweiht. Seine erste Kaplanstelle trat Heinrich Grafflage 1970-75 in St. Josef Essen-Kupferdreh an, wurde dann für sieben Jahre Rektor der Jugendbildungsstätte St. Altfrid, wo er nicht nur mit dem Bau der neuen Kapelle bleibende Spuren hinterließ. Ab Oktober 1982 war er schließlich Pfarrer in der großen Pfarrei St. Ludgerus in Essen-Rüttenscheid – mit allen Anforderungen, die das Amt in den folgenden 16 Jahren mit sich brachte: Er sorgte für die Kirchenrenovierung, den Bau eines neuen Pfarrsaals, einer neuen Orgel und unternahm jährliche Pilger- und Studienfahrten mit der Pfarrei. Ab März 1997 übernahm er zusätzlich die Aufgabe als Pfarrer der Pfarrei St. Martin, mit der St. Ludgerus 2001 fusionierte. Pfarrer Grafflage kümmerte sich um alle Fragen, die 2006 mit der Schließung und dem Abriss von St. Martin verbunden waren, sorgte anschließend für den Bau des Seniorenheims St. Martin und ging im April 2008 mit 75 Jahren in den Ruhestand.

Faszination Weltkirche

Dass für ihn damit längst nicht die Zeit für einen vollständigen Rückzug gekommen war, zeigt sein Engagement in einem Bereich, für den er bereits früh Interesse entwickelt hatte: Schon während seiner Zeit im Priesterseminar ergaben sich streng verbotene Kontakte in die damalige Tschechoslowakei. Aufmerksam verfolgte er die Situation der dortigen Christen, unternahm Reisen nach Russland und andere Ostblockländer. Das Bistum Essen ernannte ihn zum 1. Juli 1997 zum Ansprechpartner für Osteuropa und die Bischöfliche Aktion Renovabis. Über 15 Jahre lang blieb er der zuständige Vertreter des Bistums in der 1993 gegründeten Hilfsaktion der Katholischen Kirche für die Christen in 29 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Pfarrer Grafflage sorgte für die Begleitung von Projekten, besuchte die jährlichen Renovabis-Kongresse und freute sich, dort seine weit bis in die Bistümer und Apostolischen Administraturen in Sibirien reichenden Kontakte immer wieder aufzufrischen.

Priester aus Leidenschaft

Sein weltkirchliches Interesse jedoch richtete sich auch auf Mittel- und Südamerika: Reisen nach Brasilien und Mexiko machten ihn von den Lebensverhältnissen der Menschen, aber auch mit der Glaubenskraft und dem Zeugnis der Kirche dort und vielen anderen Teilen der Welt bekannt. Was ihn faszinierte, gab er gerne weiter. „Die Sorgen und Probleme, die wir heute haben, sind kein Vergleich mit denen, die etwa Christen in Nigeria haben“, erklärte er seine Begeisterung „für die Sache Gottes“.

2008 kehrte er aus Rüttenscheid in seine Heimat zurück und war seitdem als Ruhestandsgeistlicher in der Pfarrei St. Dionysius tätig. Als „Pfarrer im Unruhestand“, der noch schneller dachte, als er oft sprach, war er hier viele Jahre Präses der Kolpingfamilie Borbeck. Nicht nur dort war er für unzählige leidenschaftliche Vorträge bekannt, die er zu zahllosen kirchenhistorischen, theologischen und liturgischen Themen akribisch vorbereitete. Auch seine engagierten Predigten bleiben vielen im Gedächtnis. Hier berichtete er als scharfer Beobachter und Kommentator des Zeitgeschehens mit breitem Horizont von seinen Prägungen und Erlebnissen. Dabei schöpfte er aus einem reichen praktischen Erfahrungsschatz und einem langen Leben als Seelsorger, in dem er viele Generationen prägte.

„Die Botschaft Jesu Christi hat viel Revolutionäres hat“: Wenn das so sei, müsse „es eben auch gelebt werden“, meinte Heinrich Grafflage zu seinem Goldenen Priesterjubiläum, das am 1. Februar 2020 in St. Dionysius begangen wurde. In den letzten Monaten seines Lebens zog er in das Altenpflegeheim St. Maria Immaculata. Hier starb er am 2. Juli 2021 im Alter von 88 Jahren und wurde am 9. Juli 2021 in der Priestergruft von St. Fronleichnam auf dem katholischen Pfarrfriedhof Dachstraße/Essingweg in Essen-Borbeck/Bochold beigesetzt. (cb)

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