Folkwang-Dekade: „Die Glut weitergeben“

Schwergewicht Kultur bei der 36. Borbecker Maienmahlzeit

26.05.2022

BORBECK. „Jetzt sind wir froh, dass wir nach zwei Jahren endlich wieder die Maienmahlzeit feiern können“, strahlte Susanne Asche am Dienstagabend. Und sofort gab es spontanen langen Applaus - ein Zeichen, dass die Vorsitzende des Borbecker Bürger- und Verkehrsvereins (BBVV) mehr als richtig lag: Gerade in diesen Zeiten der Krisen und des Krieges müsse ein Signal gesetzt werden, erklärte sie bei der Eröffnung der 36. Borbecker Maienmahlzeit am 24. Mai 2022: „Wir setzen auf Kultur und Kunst! Sie sprechen eine eigene Sprache und kennen keine Grenzen und Barrieren.“ Im Festsaal der Dampfbierbrauerei wünschte sie „einen schönen und erkenntnisreichen Abend“, bei dem sie mit Franz Josef Gründges durch das Programm führte. Dazu hatten die Initiatoren ein großes Thema in den Mittelpunkt gestellt: Die geplante „Folkwang-Dekade“, mit der die Stadt Essen über zehn Jahre lang ihre große Kulturtradition und ihren Anspruch als Kulturmetropole wieder neu unterstreichen will.

Gastliche Dampfbierbrauerei

Rund 90 Gäste fanden sich am Abend im Dampfe-Festsaal ein, wie immer empfangen von fleißigen Helferinnen aus dem Borbecker Mädchengymnasium, um bei einem gemeinsamen Essen und Gesprächen die seit 1984 laufende gute Tradition wieder aufleben zu lassen - unter ihnen viele Vertreter für Kultur aus dem Rat der Stadt, aus der Bezirksvertretung, Kulturmacher und Unterstützer. Sie wurden gleich zu Beginn von einem exzellenten musikalischen Programm überrascht: Der zwölfjährige Gitarrenvirtouse Wentian Wang, Schüler der Folkwang-Musikschule, entführte mit meisterhaftem Spiel unter flirrende südliche Himmel. Einfühlsam näherte sich der mehrfache 1. Preisträger beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ der äußerst anspruchsvollen Literatur und zeigte seine ausgefeilte Technik. Kein Wunder, dass er bereits in der Essener Philharmonie als Solist debütierte und jüngst die 2. Runde beim internationalen Gitarrenwettbewerb in Iserlohn erreichte: „Sicher ein Name, den man sich merken muss“, dankte die BBVV-Vorsitzende dem jungen Künstler, der sich fröhlich und bescheiden im großen Beifall sonnte.

„Essen – Die Folkwangstadt“

Auch einen anderen Namen und Begriff wird man bald ganz sicher nicht nur wieder öfter sondern auch vielleicht neu hören: „Folkwang“ prangt seit dem 18. März im Schriftzug „Essen – Die Folkwangstadt“ auf dem Handelshof. Es war der optische Auftakt für eine Kulturkampagne, die kein anderer als der Essener Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain vorstellte - ihn hatte der BBVV in diesem Jahr als Festgast für das wiederaufgenommene Borbecker Mai-Treffen gewinnen können. Er spannte in seiner Rede einen großen Bogen von der Herkunft des Begriffs „Folkwang“ aus der Welt der nordischen Sagas bis zu seiner aktuellen Bedeutung. Sie nahm ihren Anfang bei Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus, dessen fantastische Idee von der Verschmelzung der Künste in den 1920er Jahren von Hagen nach Essen kam. „Und hier entwickelte sich die künstlerische Avantgarde ihrer Zeit in einer politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich schwer erschütterten, aber sehr dynamischen Zeit“, so Al Ghusain.

An der Spitze der Kultur

Geradezu als Kontrast zur schwerindustriellen Prägung der Ruhrmetropole fiel sie hier auf äußerst fruchtbarem Boden. Nicht nur mit dem Museum Folkwang und der Folkwang-Schule stand sie für eine pulsierende und kreative Verbindung von Musik, Tanz, Theater, bildender wie darstellender Kunst und trieb ein hoch lebendiges Kulturleben voran. Berühmte Namen sorgten für eine internationale Ausstrahlung, katapultierten Essen an die Spitze der deutschen Theaterkultur und machten sie zu einer Stadt der Kultur. Selbst die Architektur und insbesondere die Gartenarchitektur wurde in diesen Prozess einer ganzheitlichen Auffassung von Leben und Kunst mit der 1929 eröffneten GRuGa (Große Ruhrländische Gartenbauausstellung) und ihrem Skulpturenpark eingebunden. „Das Grillo-Theater und das neue Schauspielhaus an der Hindenburgstraße ergänzten schließlich eine überaus fruchtbare Dekade bis zur Machtübernahme durch die Nazis, die mit diesem Gedanken nichts anfangen konnten“, so der Chef des Geschäftsbereich „Jugend, Bildung und Kultur“.

Auch wenn manche Akteure nach dem Krieg korrumpiert gewesen seien, nahm das von der Folkwang-Idee geprägte Kulturleben nach dem Krieg einen neuen Anlauf. Insbesondere für den Tanz wurde Essen international zu einer zentralen Größe und erreichte einen Rang, der bis heute bestehe. 1963 wurde unter den Institutionen der „Folkwang-Familie“ die Hochschule initiiert, 1974 die Folkwang-Musikschule und weitere Einrichtungen, die den Namen und Idee weitertrugen. Jetzt gehe es darum, den Wert und den Sinn kultureller Bildung neu und sehr viel deutlicher in den Vordergrund zu stellen. „Denn nicht nur Mathematik muss umsonst gelehrt werden, sondern auch Kunst, Tanz und Musik“, erklärte Al Ghusain: „Dann hätte dieses Projekt schon viel erreicht.“ Und mit Verweis auf die jüngsten Vorkommnisse in Borbeck unterstrich er unter großem Applaus: „Wir dürfen unsere Jugendlichen auf ihrem Weg ins Leben nicht verlieren. Auch die kulturelle Bildung muss ausgebaut werden. Denn sie öffnet Perspektiven für die Zukunft.“

Alleinstellungsmerkmal der Stadt

Eine anschließende Diskussionsrunde gab eine Vorschau auf die Folkwang-Dekade 2022-2032, mit der auf die Stadt einiges zukommen wird. Das zeigte das Gespräch mit der Kulturmanagerinnen Dagmar Dohm und Margrit Lichtschlag: Die Geschäftsführerin des ENSEMBLE RUHR und die frühere Fachbereichsleiter im Kulturamt Essen, verantwortliche Projektleiterin für die Folkwang-Dekade 2022-2032, entwickelten Grundlinien, Möglichkeiten und Perspektiven für die auf zehn Jahre angelegte „Folkwang-Dekade“. Man werde sich wie in einer aufeinander aufbauenden Serie verschiedenen Aspekten der „Folkwang-Idee“ widmen und vielfältige Akteure einbinden, um der Kultur in gesamten Stadtraum einen neuen Klang und Stellenwert zu geben. Ziel sei, „aus dem Haus auf die Menschen zuzugehen“, um auch um Viertel zu erreichen, die damit nur wenig in Berührung kämen, wie derzeit etwa mit Projekten in der Nordcity. Auch wenn die konkreten Planungen noch längst nicht abgeschlossen seien, zeichneten die verschiedenen Jubiläen das äußere Gerüst für die geplante Dekade vor.

„Das Verbindende ist eine Utopie“, so Kulturdezernent Muchtar Al Gushain: „Teilhabe zu schaffen, an der alle Kunst- und Kulturbereiche zusammengeführt werden, die Kulturinstitutionen die Folkwang-Idee in die Stadt tragen, dort verbreiten und verankern. Sie ist und bleibt ein Alleinstellungsmerkmal der Stadt und ihrer Geschichte.“ Viele Kooperationspartner – vom Folkwang- Museum, über die Musikschule, die Essener Marketing-Gesellschaft (EMG) über das Folkwang-Kammerorchester, Musikschule Theater und Philharmonie (TUP) und viele andere Akteure aus den Künsten zeigten bereits eine breite Beteiligung bei diesem Anspruch, „die Glut, nicht die Asche weiterzugeben“ und die Kulturstadt Essen bekanntzumachen, überall – auch in Borbeck, so Al Ghusain. „Wir sind gespannt.“

Europäische Musiktraditionen aus Ost und West

Nicht nur Glut, sondern wahres Feuer brachten weitere hochklassige Klänge an diesem Abend auf die Bühne der Borbecker Dampfe: „Musik kennt keine Grenzen – das zeigt dieses bestens eingespielte Duo in besonderer Weise“, kündigte Susanne Asche an und begrüßte Taras Makhno aus der Ukraine und Margarita Cherenkova aus der Russischen Föderation. Die ebenfalls vielfach in internationalen Konkursen ausgezeichneten Studierenden der Folkwang Universität der Künste und der Musikhochschule Münster präsentierten eine zunächst ungewohnte Kombination von russischem Bajan, dem chromatischen Knopf-Akkordeon und modernem Saxophon. Spielfreudig spannten sie mit folkloristischen Motiven bis zum Jazz einen überwältigenden Bogen aus vielen europäischen Musiktraditionen aus allen Kulturlandschaften zwischen Ost und West und flanierten beschwingt durch die großen Städte Europas. Dass dies nicht der letzter Auftritt der beiden exzellenten Musiker in Borbeck gewesen sein soll, scheint nach dem langanhaltenden großen Beifall mehr als ausgemacht.

Hand in Hand-Preis 2022 für den Weltladen Borbeck

Nicht zuletzt stand mit der Verleihung der Auszeichnung „Hand in Hand“ ein prägender Bestandteil der Maienmahlzeit auf dem Programm. Der Preis für besondere Verdienste um Miteinander und Füreinander im größten Stadtteil von Essen wurde in diesem Jahr dem Ökumenischen Weltladen Borbeck zuerkannt. Die vor 40 Jahren aus der Evangelischen Kirchengemeinde Essen-Borbeck-Vogelheim und der katholischen Pfarrgemeinde St. Dionysius gegründete Initiative begann 1982 als „Dritte-Welt-Laden“ an der Klopstockstraße. 2011 wandelte sie sich in den gemeinnützigen Verein „Ökumenischer Weltladen Essen-Borbeck e.V. - Fachgeschäft für Fairen Handel“ und ist dem Weltladendachverband e.V. angeschlossen. Weit über Borbeck hinaus habe sie lange vor dem aktuellen Trend schon internationale Kooperationspartner in den Blick genommen, so Susanne Asche in ihrer Laudatio. Bemerkenswert sei nicht zuletzt das konsequente und lange Durchhalten der Gründergeneration gewesen, die mit derzeit 23 aktiven Mitstreitern bis auf den heutigen Tag fast täglich tätig ist. Bis heute halte die Begeisterung für die Idee eines gerechten Welthandels und fairen Produktionsbedingungen an, so der Vorsitzende Reinhard Böke in seiner Danksagung: „Wir hoffen, dass wir diese Leidenschaft auch die jüngere Generation weitergeben konnten und können.“ Eine schöne Anerkennung für die Leistung des Weltladens in seinem 40. Jubiläumsjahr und ein Höhepunkt bei der diesjährigen 36. Borbecker Maienmahlzeit.

Text: CB, Fotos: W. Frosch / CB

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