35. Borbecker Maienmahlzeit: „Emscherland statt Ruhrgebiet“

10.05.2019

„Wir sind hier einfach zu bescheiden“, erklärte Oberbürgermeister Thomas Kufen. „Aber wir können das und dann machen wir das auch.“ Gemeint war nichts anderes als das größte Infrastrukturprojekt auf dem Kontinent, das größte Bauwerk Europas. Kaum zu sehen, aber gigantisch in seinen Ausmaßen, gräbt es sich unter dem Breitengrad derzeit noch quer und tief durch das ehemalige schwerindustrielle Revier: Es geht um die Renaturierung der Emscher von ihrer Quelle bis zur Rheinmündung...


„Emscherland statt Ruhrgebiet“

Die 35. Borbecker Maienmahlzeit

 

BORBECK. „Wir sind hier einfach zu bescheiden“, erklärte Oberbürgermeister Thomas Kufen. „Aber wir können das und dann machen wir das auch.“ Gemeint war nichts anderes als das größte Infrastrukturprojekt auf dem Kontinent, das größte Bauwerk Europas. Kaum zu sehen, aber gigantisch in seinen Ausmaßen, gräbt es sich unter dem Breitengrad derzeit noch quer und tief durch das ehemalige schwerindustrielle Revier: Es geht um die Renaturierung der Emscher von ihrer Quelle bis zur Rheinmündung.

 

Sie war am Mittwoch, 9. Mai 2019, das Thema für einen munteren und spannenden Abend bei der 35. Borbecker Maienmahlzeit. Die Dampfbierbrauerei sah einen auf Einladung des Borbecker Bürger- und Verkehrsvereins vollen Saal – eine Begegnung mit vielen Gesprächen, beschwingter Musik und deftiger Dampfe-Kost, zu der die Vorsitzende Susanne Asche herzlich begrüßte. Mit einem Blick auf die Region, der man schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts einiges zutraute, wie Moderator Franz Josef Gründges erinnerte: Man sehe an der Emscher „auf einen Teil des Landes, der noch viel von sich reden machen“ werde, merkte bereits 1855 ein Korrespondent der Allgemeinen Politischen Nachrichten an.

 

Gemeinsame Tat

 

Und so kam es auch: Bis die Städte zwischen Ruhr und Emscher schließlich Konsequenzen aus dem wilden Bergbau der Gründerjahre, dem rasanten Bevölkerungszustrom und dem unorganisierten Siedlungs- und Infrastruktur-Chaos ziehen mussten. Flüsse und Bäche hatten durch Bergsenkungen ihren Lauf und ihre Fließrichtung verändert, Abwässer von Industrie und Siedlungen verwandelten das Idyll der vorindustriellen Zeit in eine stinkende Kloake. Da schon damals keine einzelne Kommune für sich allein dieser riesenhaften Aufgabe gewachsen war, stellte man sich 1899 den Fakten gemeinsam – durch die Gründung der Emschergenossenschaft, an der auch Bergbau und Industrie beteiligt wurden. Mit dem Lippeverband gemeinsam entstand ein nichtstaatliches Ordnungsgremium für eine Großregion, das sich bald um alle Fragen kümmerte, die mit der faustischen Verwandlung des Reviers verbunden waren.


 

Riesenunternehmen

 

Heute, 120 Jahre später, wird das außergewöhnliche Konstrukt immer noch gebraucht: „Wir machen alles – außer Trinkwasser“, betonte Prof. Ulrich Paetzel, Gastredner des Abends, der hoch eloquent und frei die Arbeitsbereiche von Emschergenossenschaft und Lippeverband vorstellte: Er leitet seit 2016 als Vorsitzender des Vorstands ein Unternehmen mit 1.600 Mitarbeitern, die alles rund um die Themen Grundwasser, Regen- und Abwasser, Hochwasserschutz, Polderregionen und vieles mehr für den Lebensraum von 7,3 Millionen Einwohnern auf 4.000 Quadratkilometern regeln. 59 Kläranlagen und 350 Pumpwerke zeigen die Dimensionen in der durch Bergsenkungen um 8-28 Meter tiefergelegten Großregion: „Und die Pumpen werden ewig laufen müssen, damit sie nicht absäuft“, stellte Paetzel klar.

 


Ein Fluss wird neu entdeckt

 

Eine Aufgabe, die vor allem die Emscher betrifft: Das einst bis zu fünf Kilometer breit mäanderende Flussbett, in dem das flache Gewässer jahrhundertelang fast ohne Gefälle gemächlich Richtung Rhein schlich, wurde mit der Schwerindustrie zu einer regulierten brauen Abflussrinne für den Dreck einer ganzen Region. Als Zubringer fungierten am Nordrand des Kohlebezirks 0unzählige Wasserläufe, die dem stinkenden Kanal als gefährliche „Köttelbecken“ reichlich weiteren Unrat zuführten. Das soll nun auf 400 Flusskilometern mit allen Nebenläufen bald vollständig der Vergangenheit angehören – durch eine Renaturierung, die einen natürlichen Flusslauf wiederherstellen will. In Arbeit ist derzeit ein neues 73 Kilometer langes, parallel verlaufendes unterirdisches Kanalsystem, das in 10-40 Meter tief liegenden, fast 2,8 Meter breiten Röhren das gesamte Abwasser der Region aufnehmen wird: „Es ist das metropolitane Großprojekt“, so Prof. Paetzel. Veranschlagt sind die Kosten auf rund 5,4 bis 6 Milliarden Euro, 2021 soll es fertig sein. Das Ergebnis sollen 326 Kilometer revitalisiertes Gewässer sein.

 

Europa macht es möglich

 

„Eine einmalige historische Aufgabe“, so Paetzel. „Und glücklicherweise gibt es Europa.“ Denn ohne europäische Töpfe sei die Finanzierung für das aus über 400 Einzelprojekten bestehende „weltgrößte unsichtbare Bauwerk“ nicht zu stemmen, erklärte er zu spontanem Applaus. Die Renaturierung der Flusslandschaft werde das Gesicht des nördlichen Ruhrgebiets entscheidend verändern - mit zahlreichen Mehrwert-Effekten im Emschertal, wie Paetzel unterstrich: Zunächst im Blick auf die Ökologie der Region und die bereits merkbar gestiegene Artenvielfalt, aber auch auf die Wirtschaft, die Bildung, auf Stadtentwicklung, Wohnen und Bauen, Gesundheit und Tourismus. Sogar auf Kunst und Kultur, verwies der Gastredner auf den Emscher-Kunstweg, der in Absprache mit der Landesregierung entlang der Radtrassen entstehen soll. Für das „Neue Emschertal“ würden allein in Essen 700 Millionen Euro investiert, erklärte Paetzel. Sein Fazit: „Das Ruhrgebiet müsste eigentlich Emscherland heißen“.

 

Ein Wort, das Oberbürgermeister Thomas Kufen spontan und gerne aufnahm: Er hatte sich im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament am selben Tag an die Essener Bürger gewandt und knüpfte vor allem an die europäischen Dimensionen des vielen fast unbekannten unterirdischen Mammutbaus an. Über viele Großprojekte werde in Deutschland viel geredet, meinte er mit Blick auf Städte wie Stuttgart oder Berlin: „Wir reden nicht, wir machen es einfach.“ Die konstruktive Kooperation vieler Akteure zeige einfach, wie auch große Dinge gelingen könnten, betonte der OB und verwies auf Europa selbst. In vielem sei man hier im Ruhr- und Emscherland ziemlich weit, so Kufen: „Es geht nicht mit weniger oder kein Europa. Es geht nur mit mehr Europa. Bitte, gehen sie zur Wahl.“

 

Ehrenpreis und Applaus für die BORBECKER

 

Doch bei der 35. Borbecker Maienmahlzeit gab es weit mehr als staunenswerte Zahlen und Daten. Es galt, auch Dank zu sagen: Die Auszeichnung „Hand in Hand“, verliehen für besondere Verdienste um menschliches Miteinander und Füreinander im größten Stadtteil von Essen, ging in diesem Jahr an das ehemalige Redaktionsteam der Borbecker Nachrichten. Die Zeitung war im vergangenen Jahr nach fast 70 Jahren von der Funke Medien Gruppe eingestellt worden. „Eine für viele sehr schmerzliches Erlebnis, das auch Ärger und Wut auslöste“, so Susanne Asche, die die Verdienste der Zeitungsmacher um das Gemeinwesen herausstellte. „Sie fehlt uns, unsere Borbecker, die uns Woche für Woche ein verlässlicher Begleiter war“, stellte sie klar und dankte umso mehr dem gesamten Redaktionsteam. Die Festversammlung dankte mit einem langen Beifall, als die langjährige Redaktionsleiterin Susanne Hölter stellvertretend die Auszeichnung entgegennahm.




 

Perfekt passte sich die musikalische Gestaltung in das Thema des festlichen Abends ein. Christian Schigulski, Jazzsängerin Bianca Koerner und Gitarristen Jan Bierthe stellten Songs aus ihrer kürzlich erschienenen CD „Schwarz wie Kohle“ vor. Und ihre zwischen Blues und Swing wechselnden Melodien waren die „Emscher- und Bergbaulieder“ weit mehr als sentimentale Erinnerungen an die Zeiten von surrenden Fördertürmen und der Arbeit unter Tage. Danksagungen gingen an das charmante Begrüßungsteam, das wieder von Schülerinnen des Mädchengymnasiums Borbeck gestellt wurde, an Jörg Schüßler vom Schönebecker Jugend-Blasorchester, der mit seinen Söhnen für den guten Ton sorgte, aber auch an die Sponsoren der Borbecker Maienmahlzeit, die Firma Deichmann, die Sparkasse Essen, die National-Bank AG Borbeck, die Sparda-Bank West eG und die Borbecker Werbeagentur PPR.personality partner GmbH. Als das Team der „Dampfe“ das Nachtischbüffet präsentierte, fing ein Standard der Veranstaltung die angeregte Stimmung noch einmal ein: Das „Glückauf“ des Steigerlieds wurde Dank Christian Schigulski & Band unerwartet zum Jazz-Vergnügen.

 

(v.l.) Dr. Christof Beckmann, Walter Frosch, Fritz Brüggemann, Dagmar Schilli-Frank, OB Thomas Kufen, Prof. Ulrich Paetzel, Susanne Asche, Susanne Hölter, Angelika Kleine-Möllhoff, Franz Josef Gründges

Christian Schibulski & Band

















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